Kommentar Siegel der guten Absicht

Berlin, 16.10.2014

Das Recht jedes Menschen auf gerechte Arbeitsbedingungen, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 bestimmt wurde, wird oft in Sonntagsreden bemüht. In der Realität aber gerät es ebenso in Vergessenheit: Hunderte Millionen Frauen, Männer und Kinder arbeiten unter lebensgefährlichen Bedingungen, ob als Quasi-Leibeigene auf Plantagen in Lateinamerika, in von Quecksilber verseuchten Bergwerken in Afrika oder in einsturzgefährdeten Textilfabriken in Asien. Als verantwortungsbewusster Bürger muss man deswegen jedem die Daumen drücken, der an diesen Zuständen etwas ändern will – etwa dem deutschen Entwicklungshilfeminister Gerd Müller. Der CSU-Politiker knöpft sich mit der Textilwirtschaft eine der Problembranchen der weltweiten Arbeitsteilung überhaupt vor. Allein in Asien nähen 15 Millionen Menschen Bekleidung, oft unter unwürdigen und gefährlichen Bedingungen; sie erhalten dafür einen Lohn, der kaum zum Leben für sie und ihre Familien reicht.

Müller hat den Zeitpunkt für sein Projekt goldrichtig gewählt: Der Einsturz einer Fabrik in Bangladesch, bei dem 1127 Menschen starben, war noch im kollektiven Gedächtnis, als der Politiker zwölf Monate später seine Initiative startete. Auch wenn es zynisch ist: Nach Katastrophen werden politische Entscheidungen plötzlich möglich, für die sich zuvor keine Mehrheit findet, ja, für die sich die Mehrheit nicht einmal interessiert. Angesichts des großen öffentlichen Drucks, den Gewerkschaften und Verbrauchervereinigungen erzeugten, hatten Textilwirtschaft und Handel auch selbst schon auf das Unglück in Bangladesch reagiert und zwei internationale Vereinigungen gegründet, die für mehr Sicherheit in den Fabriken sorgen sollen. Auch der Einladung des Entwicklungshilfeministers für einen runden Tisch mit deutschen Akteuren folgten reihenweise Vertreter wichtiger Unternehmen.

Dass sie auf keinen gemeinsamen Nenner mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der Politik kamen, darf dennoch niemanden überraschen. Das liegt weniger an den taktischen Fehlern, die Müller machte, indem er einen übereilten Zeitplan vorgab oder sich widersprüchlich äußerte, sondern daran, dass Müller auf ein Bündnis setzt, das freiwillig Verbesserungen umsetzen soll. Gefragt wäre stattdessen der Gesetzgeber. Denn Erfolg versprechen einzig verbindliche Standards in puncto Umweltschutz und Soziales. Das ist die Lehre aus den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen die Politik immer wieder darauf setzte, dass die Unternehmen auf Willensbekundungen auch Taten folgen lassen. Natürlich ziehen hier einige Unternehmen mit, deren Geschäft dann eben darauf beruht, dass sie sich als soziale und grüne Unternehmen profilieren. Ansonsten hat diese Vorgehensweise viel grüne PR und wenig Veränderungen hervorgebracht.

Eine gesamte Branche lässt sich auf diese Weise schon gar nicht zum Besseren umkrempeln. Dagegen sprechen schlicht Marktmechanismen: Wenn eine Firma heute ausschert und Schäden an Mensch oder Umwelt zu vermeiden sucht, läuft sie Gefahr, aus dem Markt gedrängt zu werden, weil ihre Rentabilität gegenüber den Konkurrenten, die keine Skrupel haben, alle legalen Möglichkeiten zur Gewinnmaximierung auszuschöpfen, vorübergehend sinken kann. Entscheidend verändern lässt sich die Wirtschaft also nur, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen für alle Unternehmen geändert werden. Für alle Firmen müssen die gleichen Regeln gelten. Und diese Regeln sollten natürlich am besten weltweit, zumindest aber für die Europäische Union vereinbart werden. Deshalb ist ein nationaler Alleingang Deutschlands unsinnig, gerade bei Textilien. Schließlich wird die darin steckende Baumwolle anderswo angebaut als dort, wo die Stoffe produziert oder zusammengenäht werden. Und verkauft werden sie noch einmal anderswo.

Auch wenn diese Wertschöpfungskette lang ist, vom Säen der Baumwolle bis zum Recyceln der Alttextilien, muss sie in ihrer Gänze kontrolliert werden. Die Technik macht dies längst möglich: Schon heute kann man mit einer Art genetischem Fingerabdruck Mineralien einzelnen Minen zuordnen oder ein Schnitzel einem Kalb. Warum sollte man nicht den Stammbaum eines T-Shirts transparent machen? Schon heute haften Importeure für Produktfehler, wenn sie sich nicht durch Offenlegung ihrer Lieferketten entlasten können. Erst wenn die Politik die notwendigen Vorgaben macht, werden die Unternehmen auch die notwendigen Nachweise darüber erbringen, dass die Produkte ohne Ausbeutung oder Umweltverschmutzung hergestellt worden sind. (SZ-Leitartikel)