Essay Die Kraft der Konsumenten

Köln, 10.05.2014

Verbraucher haben Macht – und bisweilen nutzen manche das auch für einen politisch motivierten Boykott. Wer aber glaubt, er könne allein durch

sein Einkaufsverhalten die Welt retten, sitzt einer gewaltigen Illusion auf. Dazu schrieb ich einen Essay in der Süddeutschen Zeitung.

Ätsch Amazon – Ihr kriegt von mir keinen Cent!“, heißt es auf der Internet-Seite „Amazon Boykott Deutschland – Ich bin dabei.“ Wer sich hier äußert, der will den Arbeitern den Rücken stärken, die seit mehr als einem Jahr für einen Tarifvertrag bei dem Onlineversandhaus kämpfen. Der gezielte Einkauf oder die bewusste Kaufverweigerung gehören heute oft zu Kampagnen, mit denen sich Bürger für eine gerechtere oder grünere Welt einsetzen. Gezielter Konsum ist für manchen Zeitgenossen sogar eine ernsthafte Alternative zu politischem Handeln, ganz nach dem Motto: Das Private ist politisch.



Die Macht der Konsumenten ist schon oft gefeiert oder totgesagt worden. Von einer neuen Massenbewegung sprach 1973 die New York Times . Vier Jahre später diagnostizierte das Magazin Time das Ende der Verbraucherbewegung. Zuletzt wurde wieder die Macht der Verbraucher beschworen: „Die Konsumenten werden in fünf bis zehn Jahren die Macht in ihren Händen halten“, sagte Unilever-Chef Paul Polman 2011. Wer sich als Unternehmen unsozial und unökologisch verhalte, werde „aussortiert“. Auch Politiker appellieren an die Verantwortung der Konsumenten. Nach der gescheiterten Klimakonferenz von Kopenhagen sagte die Grünen-Politikerin Renate Künast: „Jeder Einzelne macht jetzt bei sich zu Hause Kopenhagen.“



In den USA und Großbritannien steht die Wiege des politischen Konsums. Hier entdeckten die Bürger Ende des 18. Jahrhunderts ihren Einfluss als Käufer – beim politischen Kampf gegen die Sklaverei. Aus den Reihen der Quäker, religiöser Außenseiter und Reformer, rekrutierten sich große Teile der 1787 gegründeten Abolitionisten-Vereinigung, die gegen die Sklaverei kämpfte. Sie spielten zunächst auf der üblichen Klaviatur des politischen Protests, klärten ihre Landleute über das Leid der Sklaven auf und verfassten Petitionen. Ohne Erfolg. Deswegen kamen sie auf die Idee mit dem Boykott von Zucker, dem damals wichtigsten Importgut des Königreichs. Sie wollten die Profiteure der Sklaverei durch wirtschaftlichen Druck zur Aufgabe des Sklavenhandels bewegen.



Bis heute bewährte sich der Boykott bei vielen Gelegenheiten als ein Druckmittel sozial schwächerer Gesellschaftsgruppen. Ein Käuferstreik markiert gar den Anfang der modernen Bürgerrechtsbewegung in den USA Mitte der fünfziger Jahre. 381 Tage boykottierten die Schwarzen in Montgomery die Busse und protestierten damit gegen die Rassentrennung, die damals in den Südstaaten Alltag war. Als Konsumenten konnten die Schwarzen Druck machen, während ihnen als Bürger gesellschaftliche Teilhabe vorenthalten wurde. So bestand die Stadtregierung nur aus Weißen.



Heutzutage stehen seltener lokale oder nationale Regierungen als vielmehr Konzerne im Fokus von Verbraucherboykotten. Denn selbst Weltkonzerne haben eine Achillesferse: ihren Markenwert, ihren Ruf. Machen Verbraucher Druck, ändern Konzerne bisweilen ihr Verhalten, so wie der Mineralölkonzern Shell 1995. Jeder zweite Autofahrer beteiligte sich damals an dem Boykott der 1700 Shell-Stationen in Deutschland, um eine Versenkung der Ölverladeplattform Brent Spar im Meer zu verhindern. Das Management stoppte nach wenigen Boykottwochen das Vorhaben und entsorgte die Plattform an Land.



Die größte Stärke des Verbraucherboykotts ist zugleich seine größte Schwäche. Schlagkraft entwickelt der Käuferstreik, wenn die Konsumenten ein prominentes Unternehmen herausgreifen. Entsprechend beschränken sich die Aufrufe für Boykotte meist auf große, bekannte Marken. Der Großteil des Geschehens bleibt aber im Dunkeln. Entsprechend sind Boykotte selektiv und immer auch ein Stück willkürlich. So gehörte die Ölverladeplattform Brent Spar neben Shell auch dem Konkurrenten Esso, was allerdings in der damaligen Auseinandersetzung keine Rolle spielte. Der Miteigentümer Esso dürfte sogar von Verbrauchern profitiert haben, die Shell boykottierten.



Mit dem Einkaufswagen kann der Verbraucher auf dem Markt jedoch nur Druck auf Konzerne ausüben, wenn er deren Produkte kaufen kann. Das hat Konsequenzen. Wer genau hinschaut, bemerkt, dass es ziemlich viele Firmen gibt, die überhaupt keine Waren für den Endverbraucher herstellen – dort sind Boykottaufrufe sinnlos. Diese Lektion lernten als Erstes Gegner des Vietnamkriegs, als sie in den 60er Jahren gegen Dow Chemical protestierten, den Hersteller grausamer Waffen wie Napalm und Agent Orange. Machtlos sind Konsumenten auch heute bei allen Firmen, deren Kunden nur Staaten oder Unternehmen sind. Dazu zählen neben Waffenschmieden auch viele Rohstoffunternehmen oder Hersteller von Chemikalien.



Das Gleiche gilt auch für das Gegenteil des Boykotts: den politisch motivierten Kauf. Der Konsument kann nur aktiv werden, wenn es auf dem Markt ein entsprechendes Angebot gibt. Wenn es keinen FCKW-freien Kühlschrank gibt, kann man keinen kaufen. Wenn es keine ethisch-ökologische Bank gibt, kann man sein Geld nur unter dem Kopfkissen deponieren, falls man es zu keiner gewöhnlichen Bank bringen will. Wer schneller etwas bewegen will, muss seine Rolle wechseln und selbst unternehmerisch tätig werden oder andere finanziell unterstützen, die ein alternatives Angebot schaffen wollen. So gründeten engagierte Genossenschaftler 1974 die erste ethisch-ökologische Bank Deutschlands, die GLS. Umweltschützer von Greenpeace organisierten 1993 die Herstellung des ersten FCKW-freien Kühlschranks. Bürger der Schwarzwaldgemeinde Schönau schufen einige Jahre später einen der ersten grünen Energieanbieter.



Das Beispiel Schönau zeigt eindrucksvoll, dass der politische Konsument bisweilen auf Schützenhilfe der Politik angewiesen sein kann. Erst nachdem die Bundesregierung den Elektrizitätsmarkt liberalisierte, konnten Konsumenten aus dem gesamten Bundesgebiet bei den Stromrebellen einkaufen und damit die grüne Stromerzeugung unterstützen.



Je weniger Anbieter es für ein bestimmtes Produkt gibt, desto weniger Einfluss haben logischerweise Konsumenten. Im Extremfall des Monopols haben sie nämlich nur noch eine Wahl: kaufen oder nicht kaufen. Und auf einige Produkte kann man schwerlich verzichten, ob Kühlschrank, Bankkonto oder Suchmaschine.



Es lässt sich kaum exakt beziffern, wie groß die Auswirkungen der Verbraucherboykotte sind. Auskünfte von Unternehmen und Aktivisten sind gewöhnlich von Interessen geleitet und deswegen mit Vorsicht zu genießen. Der Wirtschaftswissenschaftler Monroe Friedman hat in dem 1999 veröffentlichten Buch „Consumer Boycotts: Effecting Change through the Marketplace and the Media“ einen der seltenen Versuche unternommen, den Einfluss von Boykotten auf das Verhalten von Unternehmen empirisch zu belegen. Er nahm dazu 90 Aktionen aus dem Zeitraum von 1970 bis 1980 unter die Lupe. Die Aktivisten bewirkten in einem Viertel der Fälle etwas.



Eine etwas höhere Erfolgsquote ermittelten Wissenschaftler um Wallace N. Davidson 1995: Von 59 boykottierten Unternehmen versprach jedes Dritte, die kritisierten Missstände zu beheben, was allerdings noch kein Beleg dafür ist, dass sie es am Ende tatsächlich auch taten. Besonders schwierig ist der Einfluss von sogenannten Sekundärboykotten zu beurteilen. Hierbei wollen Verbraucher durch den Boykott von Unternehmen indirekt Staaten beeinflussen. So entstand zum Beispiel 1959 eine Bewegung, die wegen des Apartheid-Regimes dazu aufrief, keine Waren mehr aus Südafrika zu kaufen.



Verbraucher laufen kritischen Entwicklungen regelmäßig hinterher. Sie boykottieren eine Firma, um dann einige Jahre später festzustellen, dass ihre neue Bezugsquelle ebenfalls fragwürdig agiert. Und ein Großteil der Konzerne ist, wie geschildert, ohnehin immun gegen Käuferstreiks.



Entsprechend eignet sich das Instrument des Boykotts nur als Teil einer umfassenden Antwort: Wer als Bürger etwas verändern will, ist auch als Wähler und vor allem als Akteur der Zivilgesellschaft und im besten Fall auch als Unternehmer gefragt, nicht nur als Konsument. Zudem kann kein noch so aufgeklärter und kritischer Verbraucher alleine die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards definieren und überwachen – das ist und bleibt eine gemeinschaftliche Aufgabe des Staates oder internationaler Organisationen. Außerdem wehren sich Konsumenten mit einem Boykott naturgemäß nur gegen Bestehendes, was nicht zwangsläufig eine konstruktive gesellschaftliche Veränderung befördert: Durch den Boykott eines Ölkonzerns entsteht noch kein Windrad und durch den Verzicht aufs Telefonieren noch kein fair produziertes Smartphone.



Wer die Gesellschaft nachhaltig umgestalten will, dem stellt sich die gleiche Frage wie früheren Aktivisten, die als Minderheit eine Mehrheit von ihrem Anliegen überzeugen wollten. Die Abolitionisten in den USA stritten schon Anfang des 19. Jahrhunderts über Sinn und Unsinn von „Free Produce Stores“, also Läden, in denen nur Produkte freier Arbeiter verkauft wurden. Die Befürworter hielten es für eine tolle Idee, Gegner für einen sinnlosen Versuch. Am Ende erwies sich der damalige Boykott von Waren in den USA als bedeutungslos für die Abschaffung der Sklaverei.



Dagegen spielte der Zucker-Boykott in England eine wichtige Rolle in der öffentlichen Auseinandersetzung. Hunderttausende Konsumenten beteiligten sich auf dem Höhepunkt des Käuferstreiks, der Zuckerabsatz brach um mehr als ein Drittel ein. Zwar fanden die Produzenten bald woanders neue Abnehmer, doch der Boykott hatte die gesellschaftliche Debatte über das Für und Wider der Sklaverei dermaßen angeheizt, dass das englische Unterhaus 1807 den Sklavenhandel verbot. Die Entscheidung über die Abschaffung der Sklaverei trafen jedoch am Ende Politiker im Parlament – und nicht Verbraucher im Laden.

Wer sich verbindliche soziale und ökologische Leitplanken für alle Wirtschaftsakteure wünscht, der muss sich auch heute in die politische Arena begeben. Wer glaubt, er könne allein durch sein Einkaufsverhalten die Welt retten, sitzt einer Illusion auf. Zudem hat jeder Bürger in den politischen Arenen eine Stimme. Dagegen entscheidet auf dem Markt das Geld über den Einfluss. Und das Geld ist höchst ungleich verteilt.