Interview Friedensbuchpreis für Amartya Sen

Der Wirtschaftsphilosoph Amartya Sen erhält den Friedensbuchpreis. Eine Einordnung und Würdigung von Sen habe ich im DLF gegeben.

DLF: Hunger zeichnet sich dadurch aus, dass einige Menschen nicht genug zu essen haben. Hunger ist jedoch kein Zeichen dafür, dass es nicht genug zu essen gibt.“ Dieses Zitat stammt von Amartya Sen. Der Wirtschaftswissenschaftler hat sich in vielen Werken mit der Armut befasst und mit der Wohlfahrtsökonomie. Er hat bereits den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen und wird nun mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt – über diese Juryentscheidung spreche ich mit Caspar Dohmen, zunächst, wie lässt sich das Werk Amartya Sens einordnen innerhalb der Wirtschaftswissenschaft?

Caspar Dohmen: Amartya Sen hat als junger Mensch eine Menge Inspiration bekommen. Mutter Tänzerin, Vater Chemieprofessor, sein Großvater ein bekannter Gelehrter und der Literaturnobelpreisträger Tagore ging in seinem Elternhaus ein und aus. Sicher haben diese vielen Einflüssen dazu beigetragen, dass sich der Wirtschaftsphilosoph später orthodoxen Sichtweisen verweigerte. Man kann sagen, in allgemeinen wirtschaftspolitischen Fragen ist er ein überzeugter Keynsianer und sieht damit eine wichtige Rolle des Staates für die Wirtschaft – gerade in Krisenzeiten. Im Mittelpunkt seiner ökonomischen Lehre steht aber die Freiheit. Er knüpft an Adam Smith an – den schottischen Begründer der Nationalökonomie. Allerdings bezieht er sich - anders als viele anderen Ökonomen - auf das komplette Werk von Smith an, also die Ökonomie und die Moralphilosophie von Smith. "Wir müssen in der Freiheit des einzelnen ein soziales Gebot sehen“ – schreibt Sen in seiner „Ökonomie für den Menschen“. Nur dann – so ist der Philosoph und Ökonom überzeugt, lassen sich drängende Probleme wie Armut und Hunger lösen. Dazu muss die Gesellschaft aber wichtige – auch ökonomische Ungleichheiten beseitigen – damit der einzelne Mensch von der Freiheit Gebrauch machen und sich entwickeln kann. Deswegen spielt für Sen etwa die soziale Absicherung von Menschen eine zentrale Rolle. Für ihn ist soziale Absicherung auch kein Gegensatz zur Freiheit – anders als etwa für viele Mainstreamliberale. Sen schaut nicht nur auf Kennziffern, sondern auch darauf, was sie für das Leben des einzelnen Menschen bedeuten. Dafür hat er gemeinsam mit dem pakistanischen Ökonom Mahbub ul Haq den Index für menschliche Entwicklung geschaffen. Er umfasst neben dem Bruttoinlandsprodukt weitere Indikatoren wie Lebenserwartung oder die durchschnittlichen Schulbildung einer 25jährigen. Für diesen wichtigen Ansatz der Wohlfahrtsökonomie hat Sen auch den Wirtschaftsnobelpreis erhalten.

DLF: Wie begründet nun die Jury die Preisvergabe?

Caspar Dohmen: Der Börsenverein des Deutschen Buchhandel schreibt in seiner Begründung – Zitat: „Wir ehren mit Amartya Sen einen Philosophen, der sich als Vordenker seit Jahrzehnten mit Fragen der globalen Gerechtigkeit auseinandersetzt und dessen Arbeiten zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit in Bezug auf Bildung und Gesundheit heute so relevant sind wie nie zuvor". Betont wird auch, dass Sen Solidarität und Verhandlungsbereitschaft als „essentielle demokratische Tugenden“ hervorhebe und damit beweise das Kulturen keine Quelle des Streits um Identitäten sein müssen.

DLF: Gesellschaftlicher Wohlstand sollte nicht allein am Wirtschaftswachstum bemessen werden – nun sehen wir in dieser Coronakrise, dass die Bundesregierung aber eben wieder genau darauf setzt – mit Schulden das Wachstum ankurbeln. Welche Symbolkraft, Bedeutung hat es, dass ausgerechnet Amartya Sen nun gewürdigt wird?



Caspar Dohmen:  Ich finde, einen passenderen Zeitpunkt als die Coronakrise hätte man gar nicht wählen können um Sen mit dem Friedenspreis zu ehren und damit seinen Ideen noch mehr Platz in der Öffentlichkeit zu gehen. Schließlich hat Sen auch schon vor langer Zeit brilliant herausgearbeitet, wie wichtig Gesundheitsfürsorge ist und welche Bedeutung dafür öffentlichen Maßnahmen zukommt. Daran erinnert uns doch gerade alle die Corona-Krise. Wir müssen als Menschen eben erst überleben, um leben zu können. Erst dann können wir die Freiheit nutzen, auch die ökonomische Freiheit. Das gilt für alle Menschen. Übrigens lehnt Sen auch keinesfalls prinzipiell Wirtschaftswachstum und freie Märkte ab. Aber er erinnert uns daran, wie zentral neben der wirtschaftlichen, auch die sozialen und politischen Freiheiten sind für die Bereicherung und Verbesserung des menschlichen Lebens. Das lernen wir auch gerade in unseren Tagen.

 

DLF, 17.06.2020