Buchbesprechung Isabella M.Weber: Das Gespenst der Inflation

Berlin, 24.05.2023

Heftigen Gegenwind bekam die Ökonomin Isabella M. Weber 2021, als sie in einem Zeitungsbeitrag darauf verwies, dass bei der Bekämpfung der Inflation selektive Preiskontrollen unter Umständen ein geeignetes Instrument sein könnten. 2022 – die Inflation hatte sich verschärft – berief die Bundesregierung sie in eine Kommission, die sich mit der Gaspreisbremse beschäftigte. Nun erscheint ihr Buch „Das Gespenst der Inflation“. Es liefert die Grundlagen für das Denken der Ökonomin, das zu einem gehörigen Teil auf ihrer Forschung zur Transformation der Wirtschaft in China beruht. Besprechung für DLF-Andruck.

Autor

Verglichen mit China ist Russland heute wirtschaftlich bedeutend kleiner. Dabei startete Russland die Transformation seiner staatlich gelenkten Plan- zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft ab Ende der 1980er Jahre auf einem deutlich höheren Niveau als China. Aber während Russland eine dramatische Deindustrialisierung erfuhr, verwandelte sich China in die Werkbank des globalen Kapitalismus. Mit der unterschiedlichen Entwicklung der beiden ehemals größten sozialistischen Volkswirtschaften beschäftigt sich die Ökonomin Isabella M. Weber in ihrem Buch. Beide Staaten hätten sich für unterschiedliche Wirtschaftspolitiken entschieden: Russland setzte die sogenannte Schocktherapie um, welche die Weltbank und der Internationale Währungsfonds allen Transformationsstaaten damals als einzig sinnvolle Reformoption nahelegten. Die Ökonomin schreibt:

Zitatorin

„Was als umfassendes Reformpaket präsentiert wurde, erwies sich als ein Vorgehen, das zunächst auf ein einziges Element der Marktwirtschaft fixiert war: die Preisbildung auf dem Markt. Und diese Einseitigkeit beruhte nicht einfach darauf, was machbar war. Der tiefere Grund für die Fixierung auf die Preisliberalisierung liegt in der neoklassischen Vorstellung vom Markt als Preismechanismus, unabhängig von den institutionellen Realitäten.“  

Autor

Den ökonomischen Ratgebern war klar, dass die plötzliche Freigabe der Preise einen Schock auslösen würde – mit Arbeitslosigkeit und Verarmung von Teilen der Bevölkerung und einer zeitweiligen Inflation. Denn für knappe Güter würden die Preise in die Höhe schnellen. Aber mit der Zeit würde der Preismechanismus für einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sorgen. Um eine dauerhaft hohe Inflation zu unterbinden, müsse der Staat seine Ausgaben und die Geldmenge knapp halten, also eine sogenannte Austeritätspolitik verfolgen. Auch in China hatte die Schocktherapie bei der wirtschaftlichen Öffnung in den 1980er Jahren viele Befürworter. Zwei Mal war die kommunistische Einheitspartei fast soweit, diesen Kurs endgültig einzuschlagen. Aber am Ende folgte sie den Ideen von Reformökonomen, die einen graduellen Übergang für richtig hielten. Der Staat setzte in einigen zentralen Bereichen weiter auf Preiskontrollen, während er in anderen Bereichen die Preise frei gab. Diese Reformökonomen zielten mit ihrem zweigleisigen Preissystem vor allem auf eine Entwicklung der Unternehmen, um eine Reindustrialisierung des Landes zu erreichen. Die Autorin schreibt:

Zitatorin

„Diese erforderte, dass bestimmte Engpässe beseitigt wurden, zum Beispiel  der Mangel an essentiellen Produktionsgütern und Energie. Dazu musste die Produktion ausgeweitet werden, ohne jedoch die Preise zu erhöhen. Dieser komplexe Prozess erforderte behutsame Eingriffe. Er konnte nicht in einem einzigen Schritt bewältigt werden. Die Geschichte seit der chinesischen Revolution hatte gezeigt, dass man eine Industrialisierung nicht einfach staatlich anordnen konnte. Die gradualistischen Reformer erklärten, auch der Glaube an ein Marktwunder sei eine Illusion.“

Autor

Nach Ansicht dieses Reformlagers würde eine Schocktherapie eine galoppierende Inflation auslösen. Damit würde der Kern der alten Volkswirtschaft zerstört, ohne eine funktionierende Marktwirtschaft zu schaffen. Vertreter beider wirtschaftspolitischen Transformationsstrategien führten eine ausführliche intellektuelle Auseinandersetzung in China. Ihr Ringen beschreibt Weber. Für ihre Promotion hatte sie in den Jahren 2016 und 2017 mit Reformökonomen beider Lager gesprochen. Ihr Buch eröffnet einen seltenen und tiefen Einblick in diese Reformepoche. Sie vermittelt aber auch einen Einblick in das wirtschaftspolitische Denken der chinesischen Herrscher seit der Antike, bei dem Preiskontrollen, Monopole und eine Stabilisierung der Wirtschaft seit jeher eine wichtige Rolle spielten.

Zitatorin

„Diese Vorstellung der Preisregulierung durch eine Beteiligung der Verwaltung am Wirtschaftsleben steht im Gegensatz zu der in den meisten Betrieben der modernen Wirtschaftswissenschaft vorherrschenden Annahme, Staat und Markt seien separate Einheiten.“

Autor

Man lernt bei der Lektüre, wie außerordentlich schwierig wirtschaftspolitische Entscheidungen in Umbruchzeiten sind, ob bei der Umstellung von einer Plan- auf eine Marktwirtschaft oder von einer Kriegswirtschaft auf eine Friedenswirtschaft. Hier sammelten etwa die USA oder Großbritannien während und nach dem Zweiten Weltkrieg eine Menge Erfahrungen, die für China später eine wichtige Rolle spielten. Eine typische Plan – oder Marktwirtschaft mag in der Theorie brillant funktionieren. Aber in der Praxis erwies sich oft das tastende Experimentieren als der erfolgreichere Weg.

Zitatorin

„Die wichtigsten kriegsführenden Länder im Zweiten Weltkrieg wählten einen pragmatischen Ansatz für die Kriegswirtschaft, der Ähnlichkeit mit dem hat, den die chinesischen Befürworter gradueller Reformen Jahrzehnte später wählten. (…) Die allgemeine Preisbremse funktionierte in den USA, weil sie nicht auf? theoretisch abgeleiteten, sondern auf empirisch beobachteten Preisen beruhte.“

Autor

Mit umfassenden empirischen Studien untermauerten auch die Gradualisten in China ihre Reformvorstellungen. Am Ende überzeugten sie ihre politische Führung. So entgingt China der Schocktherapie und schuf mit zweigleisigen Reformen die institutionellen und strukturellen Grundlagen für seinen wirtschaftlichen Aufstieg.

Zitatorin

„China wuchs in den globalen Kapitalismus hinein, ohne dass die Kommunistische Partei die Kontrolle über die Binnenwirtschaft verlor. Das ist bis heute von gewaltiger politischer Bedeutung.“

Autorin

Isabella M. Weber hat ein wichtiges Buch geschrieben. Ihre Leserinnen und Leser profitieren davon, dass sie mit vielen Zeitzeugen gesprochen hat und  tief in die Wirtschaftsgeschichte Chinas eintaucht. Zudem hat sie sich als eine von wenigen Ökonomen und Ökonominnen zu einem Zeitpunkt mit Inflation beschäftigt, als sich dafür wegen der lang anhaltenden Stabilität kaum jemand interessierte.